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Kunst als Propositionen über das Wissen

Das Lesen von Katja Pudors Arbeiten begann während eines Besuches in Katjas Berliner Atelier, bei dem ich beabsichtigte, mit Katja und ihren Werken eine dialogorientierte Ethnografie durchzuführen. Josefine Raasch, eine gemeinsame Freundin von Katja und mir, hatte uns zusammengebracht. Am Tag unseres Besuchs im Frühwinter 2018 befanden sich also drei Menschen und viele Arbeiten in unterschiedlichen Stadien des Werdens im Atelier. Indem wir Katja zuhörten, zusahen und aufnahmen, wie sie sich im Raum bewegte, erklärend und zeigend, und indem wir uns mit ihren Bildern befassten und einige mit unseren Handys fotografierten, begannen wir, uns als Teilnehmerinnen an einem Ereignis wahrzunehmen. Es war eine kleine Episode, in der unsere Leben (und unsere Freundschaften) und das "Kunstmachen" kollektiv als ein und dieselbe Sache deutlich wurden. In der Sprache einer Kunstbewegung des 20. Jahrhunderts könnten wir diese Erfahrung als ein ‚blurred happening of art and life’, als ein undeutliches Geschehen von Kunst und Leben bezeichnen. Eine spezifische Arbeit, die noch im Entstehen ist, hat mir dabei geholfen, zu formulieren, wie diese Erfahrung verstanden werden kann. Ich beziehe mich am Ende des Textes auf diese Arbeit.

Meine allgemeine Behauptung ausführend, dass Kunst buchstäblich aus der Unschärfe entsteht, in der sich kollektives Leben und Kunst ereignen, diskutiere ich Katja Pudors jüngste Arbeiten als Propositionen. Meine Lesart von Katjas Arbeiten betrachtet sie als Darlegungen, die Einblicke in die Beziehung zwischen Geduld oder vom Aushalten des Noch-Unklaren und der schließlich gemachten Erfahrung anbieten. Der englische Begriff "Proposition" kommt im Verb "vorschlagen" (to propound) vor und bedeutet "hervorbringen" (to put forward). Derselbe Wortstamm kommt sowohl in "darlegen" (expound) als auch in "zusammensetzen" (compound) vor. Diese verwandten Begriffe sind nützlich, um zu verdeutlichen, worauf ich hinweisen möchte. Wenn ich diese Arbeiten als "vorschlagend" beschreibe, sehe ich sie nicht als lautstark proklamierend, verkomplizierend und komplexer machend, sondern eher als leise zeigend und veranschaulichend. Während Kunst oft als Ausdruck des "Politischen" oder des "Psychologischen" gelesen wird, finde ich, dass Katja Pudors Arbeiten erkenntnistheoretische Einsichten vermitteln. Ich begreife sie als Werke, die die Figur der Känstler*in als Wissende*r "offenlegen" wollen. Meine Annahmen weiter ausführend, dass künstlerische Arbeiten visuelle Propositionen sein könnten und dass, was wir hier sehen, Propositionen über das Verhältnis von Erfahrung und Geduld/Aushalten sind, beginne ich mit der wohl nicht gerade überwältigenden und etwas verwirrenden Behauptung, dass Erfahrung nur Erfahrung ist - nicht Erfahrung von etwas. Aushalten ist also ein Modus der Erfahrung als Erfahrung: Wir erleben Dinge nicht unmittelbar als "Ding an sich"; das kommt erst, wenn wir mit Sprache arbeiten und uns mit Interpretationen auseinandersetzen. Und genau das mache ich hier. Die Philosophie, der ich in Katjas Atelier begegnet bin, zeigt, dass sie gelernt hat, diesen vergänglichen "Raum" zwischen Erfahren und Erfahren von Dingen zu erweitern, zu verlängern und zu kultivieren. Ihre Kunst ist die die Untersuchung der Gestaltung dieses "Raumes". Meine Behauptung ist, dass die hier gezeigte Arbeit wortlose Propositionen über das Erleben von Aushalten entwickelt.

Proposition Eins. Recalling (2017, Video, 5:47, https://vimeo.com/218691338)

Recalling fragt nach Beziehungen zwischen Erfahrungen und Erinnerungen. "Wo sind Erinnerungen gelagert?", scheint es zu fragen und zu beantworten. Am Anfang ein großes weißes Blatt Papier. Die Gestalt der schwarz gekleideten Künstlerin schüttet eine große Menge schwarz gebrannten Sand aus: Die Betrachter*in der Bilder hört die Geräusche des kiesigen Sandes, als er die unsichtbare, nach Aluminium klingende Schüssel verlässt und auf dem Papier landet. Nach fast einer Minute bildet der Sand eine Anhäufung mit einem Durchmesser von fast einem Meter und einer Höhe von dreißig Zentimetern in der Mitte des Bildschirms. Die Künstlerin geht weg und die Betrachter*in ist überrascht, dass ihre vorherige Anwesenheit in Erinnerung bleibt und somit andauert. Ein Paar weißer Fußabdrücke zeichnet sich in einer fast unsichtbaren Staubschicht ab. Im relationalen Sinne ′erinnern′ sich Papier und Staub. Schauen Sie weiter hin; eine unfertige Erfahrung der Erfahrung. Die nackten Füße der Künstlerin arbeiten sich durch den schwarzen Sandhaufen, während sie sich in Kreisen bewegt; die Anhäufung flacht ab und breitet sich aus. Die Erinnerung an den Sand schwärzt die rosafarbene Haut der Füße; als kreisförmige Spuren bleiben die gleitenden Füße undeutlich in Erinnerung. Gegen Ende der Performance schöpfen die Hände der Künstlerin Sand aus dem Hier zu einem nicht sichtbaren Dort.

In meiner Vorstellung stelle ich die Erfahrung meiner Teilnahme als Leser*in des Videotexts und die Erfahrung der Künstler*in nebeneinander. Das weiße Papier, der knirschende schwarze Sand und die unerbittlich aufzeichnende Kamera sind ihre Begleiter*innen; ebenso wie der Raum aus weiß gestrichenen Wänden, die den Hintergrund bilden,und ihre Familie, die sie unterstützt, ihre Freunde und andere sozialen Einrichtungen, die in diesem Rahmen fehlen. Meine Erfahrung der Erfahrung als Leser*in hat ganz andere Begleiter*innen. Meine Erfahrung der Erfahrung dauert ungefähr sechs Minuten; ihre Erfahrung des Inszenierens und Produzierens des Videotexts hat zweifellos viel länger angehalten und war womöglich von Fehlstarts, missglückten Versuchen und lästigen technischen Details geprägt.

Obwohl beide, als Erfahrungen der Erfahrung, sehr unterschiedlich sind, ist jede für sich gleichermaßen unfertig, chaotisch und unbestimmt. Im Videotext interpretiert die Künstlerin ihre Erfahrungen, deren Auslegung spielt sich in den vorhergehenden Absätzen ab.. Und natürlich haben auch Sie, als Leser*in dieser Zeilen, eine unfertige Erfahrungen beim Lesen gemacht. Möglichweise machen Sie die Erfahrung des Betrachtens des Videos später und interpretieren daraufhin die Erfahrungen des Lesens und Betrachtens neu.

Proposition Zwei Surface Areas (2019, Installation)

In dieser Arbeit sind die Proposition schwieriger zu erkennen. Während ich die nebeneinanderstehenden Bilder lese, formt sich die Proposition in dieser Arbeit zu einer Anweisung: "Erfahre das Aushalten!" Die*der potenzielle Leser*in trifft auf zwei Gruppen von Oberflächen. Die erste, eine große Fläche, die vertikal hängt und horizontal liegt, ist dicht mit Linien bedeckt. Die zweite besteht aus fünf weißen Blättern mit jeweils fünf schwarzen Linien. Die in diesem Buch zusammengestellte Präsentation bietet zwei kurze Blicke auf diese Zeichnungen in verschiedenen Stadien des "Kunstmachens": an der Wand einer Galerie, wo sie der gründlichen Betrachtung der Besucher*innen ausgesetzt sind und auf dem Boden des Studios, wo sie im Prozess des Werdens sind. Im Vorschaubild (02) erscheint diese Nebeneinanderstellung von verschiedenen Oberflächen als zwei nebeneinander gestellte Kunstwerke und nicht als eine Arbeit.

Diese zwei Oberflächen bringen zwei unterschiedliche Modi für die Befolgung der Anweisung "Erfahre das Aushalten!" hervor. Um diese Modi zu unterscheiden, müssen wir jedoch unser Verständnis für die Funktionsweisen jenes Raums vertiefen, der Erfahrung als Erfahrung mit Erfahrung von benennbaren Dingen verbindet. Wir müssen unser Erfahren der durch Worte und Bilder vermittelten Erfahrung von der Erfahrung, die ausschließlich durch Visuelles vermittelt erfahren wird, trennen. Der amerikanische Pragmatist C.S. Peirce formulierte eine beschreibende Typologie, mit der wir diese voneinander trennen können. Er beschrieb unterschiedliche Logiken des semiotischen Materialisierens, alternative Möglichkeiten, durch die Dinge, das "Zeug" der Welt, bedeutungsvoll werden könnten. Anhand dieser Typologie können wir den Unterschied zwischen den zwei Oberflächen treffen.

Das Symbolisieren erfordert Worte und Bilder und ich sehe die große Fläche, die dicht mit Linien bemalt ist und vertikal hängt / horizontal liegt, als symbolisierend. Mir kommen Landschaft und drei Dimensionen in den Sinn; ein Übergang von horizontal zu vertikal. Aber ich muss in Worten denken, um dorthin zu gelangen. Im Gegensatz dazu deuten fünf weiße Blätter, die hier an der Wand einer Galerie und dort auf dem Boden eines Ateliers gezeigt werden, auf die kollektive Handlung eines langstieligen Pinsels, schwarze Tinte in einem Plastikbecher und einer Künstlerin, die im Kreis geht, einen mit Tinte getränkten Pinsel hier hebend und dort senkend. Es sind keine Worte erforderlich, um Erfahrungen zu erfahren, aber wir müssen uns das kollektive Handeln vorstellen. Vielleicht können wir sagen, dass die eine Arbeit das räumliche Aushalten symbolisiert und die andere auf das zeitliche Aushalten hindeutet. Wir erfahren unterschiedliche Arten des Aushaltens.

Helen Verran , 2020